Als Odin auf seinem hohen Sitz saß und über den Kosmos nachdachte, wurde er durch gewisse Flüstergeräusche in den Zweigen des großen Weltenbaums Yggdrasil gestört, des mächtigen Baums, der alle neun Welten in seinen hohen Zweigen trägt, von Asgard, dem Königreich Odins und der Asen, bis hinunter nach Helheim, Hels kalter Halle unter den Wurzeln.
Dort, zwischen den Zweigen des Alten Baumes, lauschte Odin dem Rascheln des Untergangs und einer ungewissen Zukunft. Doch selbst mit der Weisheit, die er durch die Runen erlangt hatte, konnte er nicht weit genug sehen. Er brauchte mehr Klarheit.
Odin kannte ein großes Wesen namens Mimir, das zwischen den Wurzeln von Yggdrasil lebte und täglich aus einem Brunnen der Weisheit trank, den er Tag und Nacht bewachte. Das Wasser sprudelte tief unter den Wurzeln in diesen Brunnen. Es erinnerte ihn an den Brunnen von Urd, in dem sich die Runen befanden, für die Odin sich in früheren Zeiten geopfert hatte.
Wieder einmal beschloss Allvater Odin, sich zu verkleiden. Seine bevorzugte Verkleidung war die eines alten Mannes in einem dunkelblauen Mantel und Schlapphut. Ein einfacher Wanderer, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit und Herausforderungen auf sich zu ziehen. Er wollte auf seiner großen Suche nach Weisheit, die für Odin von höchster Bedeutung war, nicht gestört werden.
Allvater erreichte schließlich die Wurzeln in Jotunheim, dem Reich des Riesen, und dort zwischen den Wurzeln lebte Mimir an seinem magischen Brunnen.
Mimir hörte Odins Annäherung: „Wer nähert sich meiner Wohnstätte?“
„Ich bin es, Odin, Herrscher der Götter! Ich bin gekommen, um an deinem Brunnen der Weisheit und des Wissens teilzuhaben“, sagte Odin, der sich plötzlich offenbarte und mit dröhnender Stimme rief.
Mimir stand dort neben dem Brunnen, ein uraltes Wesen mit wallendem weißen Haar. „Odin, dessen Galgen Yggdrasil ist, du musst wissen, dass für einen Schluck aus meinem Brunnen ein hoher Preis verlangt wird.“
Odin näherte sich dem Rand des Brunnens und starrte in das dunkle, plätschernde Wasser. „Nenn deinen Preis und ich werde ihn bezahlen“, sagte er düster.
„Der Preis ist eines Deiner Augen, Allvater. Du musst es herausreißen und in den Brunnen werfen, damit alle, die in sein Wasser starren, Odins Opfer sehen“, antwortete Mimir.
Odin holte tief Luft, griff an sein Gesicht und riss sich mit einem Grunzen das rechte Auge heraus. Unter großen Schmerzen ließ er sein Auge in Mimirs Brunnen fallen. Dann veränderte sich die Brise, als würde sie Odins Namen aussprechen, und hoch oben raschelten Yggdrasils Blätter.
Mimir nahm sein Horn Gjallarhorn, tauchte es tief in den magischen Brunnen und reichte es Odin, dem nun „einäugigen“ Gott, und Odin trank einen großen Schluck und trank alles in einem Zug aus.
An diesem Tag sah Odin mehr in die Zukunft als je ein Gott zuvor. Dinge, die man ändern konnte und solche, die man nicht ändern konnte. Mit nur einem Auge sah er jetzt besser als je zuvor mit zwei Augen. Die Einsicht, die er erlangte, war unbeschreiblich und er hatte mehr zu bedenken, als er sich je vorgestellt hatte.